Wer hätte sich nicht schon einmal gewünscht, mehr als zwei Augen und am besten gleich ein Rundum-Gesichtsfeld zu haben? Beim Autofahren in Lübeck zum Beispiel, wenn man in letzter Sekunde den im Dunkeln ohne Licht in den Lindenteller hineinrasenden Radfahrer mehr ahnt als sieht und gerade noch bremsen kann. Forscher am Institut für Neuro- und Bioinformatik der hiesigen Universität arbeiten daran, es Autofahrern leichter zu machen, mehr wahrzunehmen, als die natürlichen visuellen Systeme Auge und Gehirn zunächst erlauben. Dieses Forschungsgebiet heißt Gaze Guidance, also Blick-Lenkung oder Aufmerksamkeitssteuerung, bezogen auf den für den Menschen so wichtigen visuellen Sinn.

Erhardt Barth, stellvertretender Direktor des Instituts, erklärt den theoretischen Ausgangspunkt seiner Arbeit so: „Das Gehirn konstruiert in jedem Augenblick eine bestimmte eigene Wirklichkeit. Die ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt einer anzunehmenden objektiven Gesamtwirklichkeit.“ Im Falle des Sehens, sagt Barth, nähmen wir stets nur wahr, was sich gemäß unserer Erfahrung oder im Rahmen einer bewussten Fokussierung im Augenblick als für uns relevant erweist. Vor lauter Fokussierung kann es schon mal vorkommen, dass man als Film-Zuschauer in einem berühmten Wahrnehmungsexperiment den Mann im Gorilla-Kostüm regelrecht „übersieht“, der da zwischen den Basketball-Spielern durchs Bild läuft, deren Würfe man zählen soll. (Link zum Film: http://www.youtube.com/watch?v=vJG698U2Mvo)

Zum Glück ist es laut Barth aber inzwischen möglich, den Seh-Sinn mit technischen Hilfsmitteln zu erweitern und zu trainieren. „Die Neuroinformatiker verstehen inzwischen ganz gut, wie neuronale Netze Muster bilden und so unsere Wahrnehmung erzeugen. Wir Ingenieure kommen auf dieser Basis langsam dahin, Systeme bauen und programmieren zu können, die das Gehirn des Menschen unmittelbar-unbewusst anzusprechen vermögen und ihm so dabei helfen, den schmalen bewusst wahrgenommenen Ausschnitt der Wirklichkeit technisch zu verbreitern. Das geschieht auf der unbewussten Ebene, ohne dabei die normal-bewusste Wahrnehmung zu stören“, erläutert der 54-jährige Professor. Im Beispiel des vom wilden Radfahrer überraschten Autofahrers am Lindenteller wäre es inzwischen wohl möglich, dem von einer Innenkamera überwachten Fahrer-Blick hilfreiche Informationen aus dem Blickfeld einer oder mehrerer Außenkameras unauffällig hinzuzufügen. Wenn der Bordcomputer den Radfahrer als Gefahr erkannt hat, kann er zum Beispiel eine kleine Leuchtdiode am Armaturenbrett aufblitzen lassen, die den Blick des Fahrers unbewusst so lenkt, dass er den Radler nun doch wahrnehmen kann.

Von einem solchen System baut ein großer deutscher PKW-Hersteller gerade einen Prototypen. Mit einem solchen neurovisuellen Assistenzsystem käme es gar nicht erst zum Stress-Bremsen am Lindenteller – und insgesamt zu weniger Unfällen. So jedenfalls die Vorstellung der Informatiker, die weiter an Systemen einer „augmented vision“ (eines angereicherten Sehens) arbeiten. Auf einem Auto-Simulator hat Barths Team mit Situationen wie im Bild oben bereits überzeugende Versuchsergebnisse erzielt: Die mit dem „augmented vision“-Unterstützungssystem fahrenden Probanden bauen hier deutlich weniger simulierte Unfälle als die ungestützte Kontrollgruppe.

Auf der Basis der in den vergangenen Jahren gewonnenen Erkenntnisse entwickeln die Lübecker Forscher nun auch Trainingsmaschinen etwa für wahrnehmungskritische Berufe wie Fluglotsen. Eine andere sich abzeichnende Anwendung ist eine Leseunterstützungstechnik für Legastheniker, deren Hauptproblem ihre abgelenkte Aufmerksamkeit ist. Wie beim Autofahren geht es hier darum, eine optimale Fokussierung der Aufmerksamkeit zu unterstützen.